Anästhesie als Paradigma der Gestaltung, Kathrin Alischer
Inhalt
Während das Empfinden eine wesentliche Dimension des Ästhetischen ist, thematisiert die Anästhesie die Empfindungslosigkeit – im Sinne eines Verlusts, einer Unterbindung oder der Unmöglichkeit der Sensibilität.
Die Faszination des Menschen für den künstlichen Schlaf prägt unterschiedliche kulturelle Anschauungen und nimmt dadurch einen direkten Einfluss auf die Praktiken der Narkose und somit das Hervorbringen von Produkten im medizinischen Kontext. Das gestalterische Paradigma der Anästhesie steht dabei in einem direkten Zusammenhang zu kulturhistorischen Entwicklungen der Empfindungslosigkeit. Der zeitgenössische medizinische Kontext greift dabei auf ein umfangreiches materielles Erbe zurück, welches sich aus der paradigmatischen Haltung zum menschlichen Körper, der Schmerzempfindung und dem Hospital gebildet hat.
Die Ästhetik der Anästhesie, das spannungsreiche Doppel der Wahrnehmung von Objekten in Räumen der Nicht-Wahrnehmung, wird in drei Produkte übertragen. Die entworfene Kollektion besteht aus Operationsleuchten, einem Nachttisch sowie Wandspiegeln. Jedes der entwickelten Produkte bezieht sich auf spezifische Phänomene der Anästhesie. Thematisch und formal bilden der Nachttisch, die Operationsleuchte und der Wandspiegel ein eigenständiges materielles Narrativ im Kontext der Anästhesie. Der sterile dunkle Nachttisch steht dabei in einem starken Kontrast zu der strahlenden weißen Operationsleuchte. Diese sinnliche Gegensätzlichkeit der Anästhesie reicht dabei von der Leere über die Blendung hin zu einer flirrenden Reflektion des Wandspiegels. Der abstrakte Begriff der Anästhesie materialisiert sich nach und nach und wird zu drei Produktkörpern im Raum.
Die zusammengestellten gestalterischen Paradigmen greifen dabei neben dem inhaltlichen Kontext auch auf phänomenologische Merkmale, wie Ohnmacht, Sterilität und Fragmentierung zurück. Mit der gestalterischen Einbindung atmosphärischer Züge der Anästhesie wird eine Haltung eingenommen, die verstärkt berücksichtigt, wie wir die Dinge mit unseren Sinnen wahrnehmen.
Operationsleuchte.
Vergleichbar mit einer Theaterbühne wird im Operationssaal das Licht punktuell eingesetzt, um Bereiche gezielt hervorzuheben und für körperliche Eingriffe deutlich sichtbar zu machen. Die Lichtstrahlen fallen dabei gebündelt auf Patienten und schimmern zusätzlich auf den grünlichen Operationstextilien. Die moderne medizinische Szenografie zeichnet sich besonders durch eine neutralweiße Lichtstimmung aus, welche in der gestalteten Operationsleuchte aufgegriffen wird. Die gestaltete Operationsleuchte geht auf diese ästhetischen Phänomene des Operationssaals ein und betrachtet zusätzlich die historische Entwicklung des Operationssaals als öffentliches Theater genauer. Bei der Gestaltung wird auf technische Details, wie sterile Kunststoffe, weiße Beschichtungen sowie lichtstarke Leuchtdioden geachtet, dadurch entsteht ein Hybrid aus medizinischer Beleuchtung und szenografischer Theaterbeleuchtung.
Nachttisch.
Unser Alltag spielt sich zwischen Tag und Nacht, Licht und Schatten, der Erleuchtung sowie der Dunkelheit ab. Schlaf tritt als natürliche Narkose in unser Leben und führt zu einem täglich wiederkehrenden Wahrnehmungsverlust. Dem Schlaf als tägliche Erholungspause haftet daher ähnlich der Ohnmacht etwas Vages und Unheimliches an. Während des Übergangs von der Müdigkeit hin zum Schlaf scheint der Körper schwerelos zu werden und sich im Nichts aufzulösen. Dem Nachttisch kommt als Objekt eine besonders intime Rolle zu. Er begleitet uns auf dem Weg in den Schlaf und wartet auf uns, bis wir erwachen.
Das materielle Narrativ des dunklen karbonisierten Nachttisches steht im Zusammenhang mit der Entwicklung der hölzernen Innenausstattung historischer Operationssäle. Durch die Hitzebehandlung der Weißtanne wird das Holz karbonisiert und dadurch sterilisiert. Neben dem dunklen rein ästhetischen Erscheinungsbild wird durch das Shou Sugi Ban Verfahren eine antimikrobielle Oberfläche erzeugt.
Wandspiegel.
Die historische Entwicklung der Methoden und die unterschiedlichen kulturellen Einstellungen zur Anästhesie sind in Magie, Trance und Kult verborgen, nicht nur in der medizinischen Praxis. In der Geschichte der Anästhesie hatten giftige Pflanzen etwas Magisches an sich. Die Metapher eines historischen Zaubergartens mit seinen sinnlichen Eigenschaften kann für die Gestaltung der fragmentarischen Spiegelfläche herangezogen werden.
Die konstituierte Realität der klinischen Szenarien ist heute mit einer traumhaften materiellen Präsenz von hygienischen Edelstahloberflächen sowie schützenden Latexhandschuhen verbunden. Die im klinischen Kontext verwendeten zeitgenössischen Materialien schaffen eine magische Landschaft. Der entworfene Wandspiegel stellt dabei eine Reflexion dieses magischen Universums der Anästhesie dar. Persönlich wahrnehmbare Effekte, wie das Flimmern und die Fragmentierung von Räumen, werden als Gestaltungspotentiale aufgegriffen.